Page 2 - Adlershof Journal Juli/August 2016
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Adlershof                                                                                                                                                                                                              ESSAY


         Journal          Juli | August 2016

                                                                                                                               Die Kunst des Flanierens


                                                                                                           10

                                                                                                            14




                                                                                                                               Wenn dereinst ein intelligenter Algorithmus anhand zufällig   die Arme hinter dem Kopf gekreuzt, der Blick selbstbewusst, der
                                                                                                                               aufgenommener Fotos der öffentlichen Szene die repräsentative   Körper nicht ganz abgebildet – inszenierte unmissverständliche
                                                                                                                               Ikonografie für unsere Zeit zu identifizieren haben wird, kommt   Erotik. Die Kampagne war höchst erfolgreich, weil sie irritierte
                                                                                                                               dies  heraus:  gesenkter  Kopf,  fokussierter  Blick,  kontextuelle     und mit allem brach, was bislang öffentlich war.
                                                                                                                               Ignoranz,  Isolation  in  der  Mas-
                                                                                                                                                                                                              Doch  die  Irritationen  entstan-
                                                                                                                               se derer, die sich auf eben diese
                                                               6                       8                    12                 Weise  isolieren,  und  im  Fokus                                              den weniger wegen der öffent-
                                                                                                                               all  dessen:  das  Smartphone,                                                 lichen  Zurschaustellung  der
                                                                                                                                                                                                              Weiblichkeit,  als  wegen  eines
                                                                                                                               Eingangstor zu den mit einem
                                                                                                                                                                                                              diffusen  Gefühls  der  Vertraut-
                                                                                                                               entrückten  Euphemismus  be-
         INHALT                                               AUS DER REDAKTION                                                zeichneten  „soziale  Medien“.                                                 heit. Genau das war der kleine
                                                                                                                               Verbunden  mit  allem  und  je-                                                Geniestreich: Die Werber hatten
                                                                                                                                                                                                              in  ihre  Bebilderung  des  luxu-
                                                                                                                               dem  weltweit,  in  Echtzeit,  im
          3  ESSAY                                            Wenn der Sommer kommt, wenn Ferien sind, liegt es nahe, sich mit   Jetzt.  Nur  offensichtlich,  nicht                                          riösen  Dadrunter  eine  uralte
             Die Kunst des Flanierens: Kopf hoch und Blick zurück nach oben  dem Naheliegenden zu befassen. Was machen die Menschen eigent-  im Hier.                                                         Ikonografie integriert, die sicht-
                                                              lich, die im Technologiepark Adlershof arbeiten, wenn sie nicht arbeiten                                                                        bar  wurde,  wenn  man  –  durch
          4  INTERVIEW                                        – am Feierabend, in der Freizeit, am Wochenende? Relaxen (altdeutsch:   Geregelt durch die mathema-                                             die  Stadt  flanierend  –  den
              Im Gespräch mit Annika Huber-Lieske, der Organisatorin    entspannen)  sie?  Oder  arbeiten  sie  durch  fürs  freie Wochenende  bei   tische  Zurüstung  jeglichen                             Blick  auf  die  oberen  Stockwer-
             der Adlershofer Firmenstaffel                    der  Familie  in  der  Ferne?  Die  Vielfalt  der  Freizeitgestaltung  ist  groß   nächsten Augenblicks als logi-                               ke  der  Fassaden  richtete,  wo
          5   MENSCHEN                                        und so individuell wie der Standort insgesamt. Zwar gibt es „Ein Leben   sches Replikat des vorangehen-                                         – in eben der Stellung, die das
                                                              nach der Arbeit“, aber ganz so scharf wollen die Adlershofer die Trenn-
             Der Tüftler: Für Joachim Feierabend ist Elektrotechnik das                                                        den,  mit  virtuellen  Navigati-                                               Plakat  reinszenierte  –  Karya-
             Lebensthema                                      linien nicht ziehen. Die Arbeit nämlich scheint ihnen Spaß zu machen.    onsgeräten  der  Mehrheitsbe-                                          tiden  und  Atlanten  in  steiner-
                                                              Dennoch  ist  es  an  Wochenenden  sehr  ruhig  in  Adlershof,  wie  Dilek    wegung all derer nachgebildet,                                    ner Erotik wirkten. Man sah dies
          6   TITELTHEMA                                      Güngör auf ihrem Streifzug feststellt.                           die unentwegt aufs Gerät star-                                                 natürlich  nur,  wenn  man  sich,
             Schafe in der Wissenschaftsstadt: Ein Ort zum Träumen
                                                              Dass  Freizeit  auch  eine  Auszeit  sein  kann  (und  muss),  darauf  macht   ren.  Apps,  die  einen  dorthin                                 wie  in  seiner  inspirierenden
          8   NACHGEFRAGT                                     eine App aufmerksam, wie sie Axel Steinhart vom Unternehmen „off-  führen,  wo  auch  andere  schon                                             Textsammlung  „Ermunterung
             Es gibt ein Leben nach der Arbeit: Wie verbringen    time“  entwickelt  hat. Wir  sollen  wieder „Raum  zum  Atmen  in  unse-  waren,  die  einem  deshalb  ähn-                                 zum  Genuss“  der  berühmteste
             Adlershofer den Feierabend                       rer  hypervernetzten Welt  finden“,  sagt  er. Wie  wahr!  Schon  deshalb,   lich  scheinen,  weil  sie  Informa-                               Protagonist dieser vergessenen
         10  FORSCHUNG                                        weil wir nur noch auf den Bildschirm unseres Smartphones schauen,   tionen  folgten,  wo  wir  schon                                            „Kunst  des  Spazierengehens“,
                                                              den  Blick  starr  nach  unten  gelenkt.  Uns  „droht  eine  innovative   waren  und  so  fort,  was  nun                                       Franz  Hessel,  schrieb:  gehen
             Heavy Metal ohne Stau: Wie Forscher des DLR den    Schockstarre, weil man keine Impulse mehr empfängt, die nicht vorher
             Straßenverkehr flüssiger machen                                                                                   –  nach  dieser  abstrakten  Ein-                                              ließ. „Eine  Schule  des  Sehens“,
                                                              durch die bereits archivierten Datenbestände geprägt“ sind, befindet   leitung  die  kleine  knirschende                                        die Hessel später vorführte, als
         12  UNTERNEHMEN                                      der Wirtschaftssoziologe Holger Rust in seinem Essay und empfiehlt:   konkrete  Frage  aufwirft,  wie                                           „Flaneur  in  Berlin“,  in  einem
             Bäckers Treibstoff: Was unser Brot so lecker macht  Kopf hoch und beim Flanieren wieder das Neue entdecken. Mal Hand
                                                              aufs Herz: Beherrschen Sie die „Kunst des Flanierens“?           bitte  noch  sich  Kreativität  für                                            „Versuch  mit  Wien“  oder  im
         14   MEDIEN                                                                                                           eine innovative Zukunftsgestaltung nähren könnte. Irgendwann   berühmten „Pariser Tagebuch“, das entstand, weil er sich flanie-
             Ein Blick zurück: Filmemacher Lutz Pehnert über die     Sehr engagiert in ihrer Freizeit ist Annika Huber-Lieske, der organisato-  muss  dieses  System  ja  im  rasenden  Stillstand  landen.  Dann   rend von der Aufgabe ablenken ließ, einen Artikel zu schreiben,
             Ansagerinnen des DDR-Fernsehens und andere Ostgeschichten  rische Kopf hinter der Adlershofer Firmenstaffel. Sie erklärt uns im In-  droht  eine  innovative  Schockstarre,  weil  man  keine  Impulse   und genau dadurch seinen Gegenstand fand.
                                                              terview nicht nur, wie sie die Lauffreudigen zum Laufen bringt, sondern   mehr empfängt, die nicht vorher durch die bereits archivierten
         16   CAMPUS                                          verrät uns auch, wie sie es mit dem Laufen hält.                                                                       Diese  Kunst  wird  in  den  nächsten  Jahren  zusehends  wichti-
             Pause vom digitalen Dauerfeuer: Adlershofer Psychologen                                                           Datenbestände geprägt wären.                          ger, wenn es darum geht, den Megatonnen von Big Data nicht
             haben eine Auszeit-App entwickelt                Man  kann  nicht  nur  Feierabend  haben,  man  kann  auch  so  heißen,
                                                                                                                               Was sähe man denn, wenn der Blick sich vom funkelnden Recht-  nur  das  starre  Gestänge  des  Gestrigen  zu  entringen,  sondern
         17   GRÜNDER                                         wie  der Tüftler  Joachim  Feierabend,  den  wir  Ihnen  vorstellen  wollen   eck löste und frei umherirrte, dies während man einfach nur so   das  Neue,  das  Eigentümliche. Wie  es  eben  jener  Blick  für  das
                                                              und der uns auch verrät, was man mit diesem Namen anstellen kann.
             Krebstherapie nach Maß: Barron Biomedical arbeitet an    Schließlich  ist  die  Sommerzeit  Festivalzeit,  so  auch  in  der  beschau-   vor sich hinginge? Ich will die Antwort mit einem Beispiel ein-  erotische Motiv der Karyatiden als Vorspiel für eine Werbung des
             personalisierter Medizin                                                                                          leiten: Mitte der 1980er Jahre tauchte im Wiener Stadtbild eine   20. Jahrhunderts zeigt. Also Kopf hoch. Blick zurück nach oben,
                                                              lichen  schleswig-holsteinischen  Gemeinde  Wacken.  Anfang  August
         18  KURZNACHRICHTEN                                  wird  es  sehr  laut.  Abschalten  können  Sie  dort  garantiert  nicht.  Aber    Plakatwerbung  für  Dessous  auf,  gestaltet  als  Triptychon,  auf   auf dass neue Ideen entstehen – nur eine bitte nicht: eine Fuß-
                                                              was  uns  beschäftigt:  Was  haben  ein  Heavy-Metal-Festival  und  das    dessen  drei Tafeln  Cindy  Crawford  die  Kundinnen  mit  jeweils   fessel, die Flaniermeilen zählt!
                                                              DLR in Adlershof gemeinsam?                                      einem Wort ermunterte: Trau. Dich. Doch. Crawfords Haltung –


                                                              Lesen Sie selbst nach!
         Ausführliche Texte und Adlershofer Termine           Viel Spaß dabei wünscht Ihnen
         finden Sie unter:
                                                              Dr. Peter Strunk                                                 Prof. Dr. Holger Rust, Wirtschaftssoziologe, Praktiker und Publizist,
             www.adlershof.de/journal                         Bereichsleiter Kommunikation                                     bekannt als Kritiker von Managementmoden.

                                                                                                                                                                                                           Adlershof Journal  |  Juli_August 2016  3
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