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Adlershof ESSAY

Journal
Mai | Juni 2015
LEBEN IM WUNDERLAND



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Was rieb sich Alice erst einmal die Augen, als sie sich im Wunderland umsah: Alle rannten dort so
schnell. Und doch schien alles stillzustehen. „Wie ist das möglich?“, fragte Alice die Rote Königin.
„Hierzulande“, sagte sie, „musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck
bleiben willst. Willst du irgendwo anders hin, musst du mindestens doppelt so schnell sein.“

D as klingt doch vertraut: Arbeiten wir nicht alle immer mehr gegen jedes neue Galaxy-Smartphone. Eine Bakteriengenera-
6 8 16 (bei gleichem Lohn)? Werfen Konzerne nicht immer schneller tion dauert vielleicht 30 Minuten. Bei uns dauert sie 30 Jahre.
neue Produkte auf den Markt? Heißt es nicht ständig, die Wirt-
schaft müsse wachsen, wachsen, wachsen? Rennen, um zu Aber es gibt einen großen Unterschied: Bakterien teilen sich. Ihr
überleben. Wer nicht wächst, der hat schon verloren. So das Erbgut ändert sich dadurch nur selten. Sie bekommen also nur
ganz wenige neue Karten zugespielt und müssen auf den Joker
INHALT AUS DER REDAKTION Dogma in der globalisierten, digitalisierten Wirtschaft. warten. Wir hingegen mischen die Karten jedes Mal neu. Ganz
Besonders deutlich wird das in der Unterhaltungselektronik: einfach, weil wir Sex haben. Dabei wird das Erbgut von Vater und
Jahr für Jahr spülen Apple, Samsung und Co. neue Modelle auf Mutter zufällig neu kombiniert. Jedes Kind hält dann ein ganz
3 ESSAY den Markt. Die Lebenszyklen von Produkten haben sich drama- neues Blatt in der Hand und sein Immunsystem hat eine neue
Leben im Wunderland: Konzerne sollten mehr Sex haben! Gigantisch tisch verkürzt. Früher kaufte der Deutsche alle zwölf Jahre einen Chance, den Krankheitserreger zu besiegen. Kinder sind echte

4 INTERVIEW neuen Fernseher. Heute alle vier. Die Innovationssprünge werden Innovationen.
Jutta Schwarzkopf im Gespräch: Kristallzüchterin A dlershof – was bist du groß geworden, denke ich, wenn ich dabei kleiner. Wie viel innovativer ist das iPhone 6 wirklich vergli- Davon sollte unsere Wirtschaft lernen. Konzerne sollten mehr
mit Bewegungsdrang in der Mittagspause mal wieder durch die Wissenschaftsstadt chen mit dem iPhone 5? Oder das Samsung Galaxy 4 gegenüber Sex haben! Sich Zeit nehmen, ihre Produkte öfter neu zu erfin-
radele, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Die stärks- dem Galaxy 3? Oft entpuppt sich die vermeintliche Innovation
5 MENSCHEN ten Aktivitäten gibt es im Quartier „Wohnen am Campus“. Da sogar als Rückschritt (Stichwort: Akkulaufzeit). den und Vielfalt zu bieten. Das wäre qualitatives Wachstum und
Die „Powernerds“: Kolja Bailly und Peter Kock entwickeln sitzen bei Sonnenschein die ersten Bewohner auf ihren Balkons nachhaltig obendrein.
lernende Software und können das rege Baugeschehen live „aus der ersten Reihe“ Dieses hektische Rote-Königin-Rennen zwischen den Konzernen
erzeugt nicht nur Pseudoinnovation, sondern auch Unmengen
6 TITELTHEMA mitverfolgen. Vor allem neue Firmen zieht es an den Standort. Elektroschrott. Das Smartphone vom letzten Jahr ist der Müll
135 Newcomer waren es im letzten Jahr. Wer kein eigenes Gebäu-
Warum Adlershof wächst: Guter Nährboden für über de errichtet, wird Mieter. Und so füllen sich die für Industriean- von heute. Eine beispiellose Verschwendung von Ressourcen.
1.000 Unternehmen Auch alte Branchen werden davon erfasst – weil alles digitali-
siedlungen vorgesehenen Grundstücke am Groß-Berliner Damm
8 UNTERNEHMEN Stück für Stück. Mehr noch: Entlang der Rudower Chaussee siert wird. Beispiel Autos: Weil sie heute rollende Computer
sind, werden sie abhängig von den Produktionszyklen der
Gemeinsam wachsen: Wie Hightechunternehmen entstehen neue Bürohäuser privater Immobilienentwickler. Hard- und Softwareindustrie.
Vergrößerung meistern Auch im ohnehin bereits dicht bebauten Technologiepark stehen
Bagger und Kräne nicht still. Wie können wir dieses irre Rennen stoppen?
10 GRÜNDER
Mitspielen: Gamesbranche im Aufwind Über 1.000 Unternehmen mit fast 16.000 Beschäftigten gibt es Eine Antwort könnte die Evolutionsforschung liefern. Dort hat
heute in der Wissenschaftsstadt Adlershof. Wow! Auch wenn man nach der Roten Königin eine berühmte Theorie benannt,
12 CAMPUS wir uns an diese Zahlen ganz schnell gewöhnt haben, deren Er- die das Wettrüsten zwischen Arten erklärt. Je schneller der
Wer trägt das Risiko? Mitarbeiterbeteiligung höhung längst abgestecktes Ziel ist, lohnt ein Blick zurück. Zur Hase, desto scharfsichtiger der Adler. Der Wettlauf endet nie.
in Unternehmen Gründung des Technologieparks Anfang der 1990er-Jahre glaub- Wie im Wunderland. Wie in der globalisierten Wirtschaft.
14 EINBLICKE ten nur wenige Visionäre an solche Ergebnisse. Von den 5.500 For-
„Pitch Battle“ im Bunsensaal: Das Start-up-Bootcamp schern aus der einstigen Akademie der Wissenschaften konnten Dasselbe bei Krankheitserregern und Menschen. Wir kön-
nur 1.300 Beschäftigte in den außeruniversitären Forschungsein- nen impfen oder Antibiotika schlucken, so viel wir wollen –
15 VERANSTALTUNGEN richtungen ihre Arbeit fortsetzen. Ein paar Dutzend ehemalige die Keime holen irgendwann auf. Selbst wenn wir immun
Schlau durch die Nacht: Show-Roboter Nox auf Akademiemitarbeiter gingen dagegen mit einem eigenen Unter- werden, können wir uns darauf nicht ausruhen. Wenn
digitaler Schnitzeljagd nehmen an den Start. Diese Standortpioniere, von denen einige sich heute alles immer schneller dreht, dann deswe-
inzwischen ihr 25-jähriges Unternehmensjubiläum feiern, und gen, weil in einer globalisierten Wirtschaft immer
16 MEDIEN das kluge Konzept, Adlershof auf den drei Säulen Wissenschaft, irgendwo einer ist, der die Bakterienstrategie
Erprobt in Wüste und Regenwald: Digitale Audio- und Wirtschaft und Universität wachsen zu lassen, haben zum Erfolg verfolgt und den Takt vorgibt. Eigentlich hät-
Videorekorder der Firma Sound Devices machen es möglich geführt. Unser Plan, bis zum Jahr 2020 hier 20.000 Beschäftig- ten wir dieses Rennen schon vor langer Zeit
18 KURZNACHRICHTEN te, 1.200 Unternehmen, 3.500 Einwohner zu haben, ist ehrgeizig, verlieren müssen. Einfach aus dem Grund,
aber machbar. weil Bakterien, Viren und Co. sich viel viel
schneller fortpflanzen als wir. Und mit
jeder Generation beginnt der Wettlauf
erneut, so wie mit jedem neuen iPhone
Ihre
Ausführliche Texte und Adlershofer Termine
finden Sie unter: Sylvia Nitschke
www.adlershof.de/journal Leiterin Adlershof Print Jens Lubbadeh ist freier Journalist und Kolumnist
für Spiegel Online und Jolie.

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