Page 2 - Adlershof Journal Mai/Juni 2017
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Adlershof                                                                                                                                                                                                               ESSAY


        Journal           MAI | JUNI 2017







                                                                                                           14 21


                                                                                                                               Ich hatte auch mal richtige Arbeit. Das ist schon lange her. Damals
                                                                                                                               studierte ich noch und wusste nicht, was ich werden soll. Schrift-
                                                                                                                               stellerin war gar keine Option. Das wusste doch jeder, dass man
                                                                                                                               mit Kunst kein Geld verdienen kann. Aber weil ich trotzdem Koh-
                                                                                                                               le brauchte, um meine damaligen Hauptnahrungsmittel Kaffee,
                                                                                                                               Zigaretten und Apfelsaftschorle zu bezahlen, ging ich in den
                                                                6                      4                     5                 Service und wurde Callcenteragent. Sprich: Koalssentaäitschent.
                                                                                                                               „Telefonfrollein“, sagte meine Großmutter. Drei Tage die
                                                                                                                               Woche ließ ich mich vier Stunden am Stück von wütenden
        INHALT                                                AUS DER REDAKTION                                                Zeitungsabonnenten anbrüllen und versuchte, freundlich
                                                                                                                               und kompetent zu antworten.

         3   ESSAY                                            Dienen auf Augenhöhe                                             „Sie Frollein! Die Zeitung war wieder nich im Kasten.
                                                                                                                               Ick kündige!“
          	 Als	ich	mal	Telefonfrollein	war:	Ein Job im Leserservice
                                                              Dass  wir  in  einer  Dienstleistungsgesellschaft  leben,  ist  keine   „Oh je! Das klingt schlecht. Wie ist denn Ihre Kunden-
         4   IM GESPRÄCH MIT                                  neue Erkenntnis. Mehr als zwei Drittel der deutschen Erwerbs-    nummer? Dann schaue ich mir das mal an.“
            Bernd	Haase:	Gebäudestratege und Partner bei der    tätigen  verdienen  heute  ihr  Geld  mit  Dienstleistungen.  Den-
            Vollack Gruppe                                                                                                     „Kundennummer. Weeß ick doch nich. Müller heiß ick.“
                                                              noch  fallen  mir  bei  diesem  Stichwort  zuerst  der  Friseur,  die   Das Problem war, dass man den Namen Müller in der Daten-
         5   MENSCHEN                                         Fast-Food-Kette, der Fahrradverleih oder der Fensterputzer ein.   bank nicht suchen durfte, zumindest nicht, ohne noch weitere
            Die	Datenliebhaberin:	Christin Schäfer ist mit ihrer Firma    Erst  nach  kurzem  Nachdenken  zähle  ich  auch  Steuerberater,   Informationen zum betreffenden Kunden einzugeben, Straße
            acs plus auf datenanalytische Dienstleistungen spezialisiert  Rechtsanwalt, Versicherer und Finanzdienstleister auf, denke an   und Hausnummer oder Postleitzahl und Vornamen, einfach aus
                                                              das  ganze  Beratergeschäft,  an  Übersetzer,  an  Marketing-  und   dem Grund, weil es in der Datenbank Müllers wie Buchstaben in
         6   TITELTHEMA
          	 Serviceoase	für	Start-ups:	Die neuen Angebote vom WISTA    Werbeexperten, und lande schließlich bei Forschungsdienstleis-  der Zeitung gab. Sonst wäre sofort der Server abgestürzt.
            Business Support                                  tern, Daten- und IT-Spezialisten. Meine Liste wird immer länger.   „Herr Müller, sagen Sie mir, wo Sie wohnen? Dann finde ich Sie   „Frau Schönlein“, sagte ich ruhig, „Sie haben doch sicher ein
                                                              Serviceanbieter sind heute oft bestens ausgebildet und in der
                                         2
         8   Der	Wachstumsbeschleuniger:	Mit dem A  Adlershof Accelerator   Regel gut bezahlt.                                 leichter.“                                            Girokonto?“
            in die zweite Runde                                                                                                                                                      „Watt fürn Ding? Weiß ick nich“, sagte Frau Schönlein zerstreut.
                                                                                                                               „Nee, wieso? Soweit kommt’s noch!“
         10   NETZWERKE                                       Gleichzeitig geht der Trend in Richtung Do-it-yourself: Wir kön-  Die meiste Zeit hat mir der Job im Callcenter Spaß gemacht. Im   Ich versuchte es anders.
            Über	den	Tellerrand:	Wie die Innovationswerkstatt Schöneweide    nen uns ein Haus selbst bauen, unsere Finanzen selbst regeln,   Gegensatz zu meinem Germanistikstudium, wo ich mir in über-  „Frau Schönlein“, sagte ich, „Sie bekommen doch Rente?“
            Industrie und Forschung regional vernetzt         auch ohne Fitnessstudio durchtrainiert sein. Die Entscheidung    füllten  Proseminaren  und  kryptischen Vorlesungen  vorkam  wie   „Ja“, sagte Frau Schönlein laut und deutlich, offenbar erfreut,
         12   NACHGEFRAGT                                     zwischen „selber machen“ und „machen lassen“ fällt oft schwer    ein Vollidiot, gab mir der Job im Leserservice das Gefühl, etwas   endlich mal eine positive Antwort geben zu können.
            Interview	mit	dem	Regierenden	Bürgermeister	Berlins		  – es sei denn, Dienstleister schaffen es, sich in andere Menschen   Sinnvolles  zu  tun.  Leuten  zu  helfen.  Ganz  der  Wortbedeutung     „Wunderbar“, sagte ich erleichtert. „Und die Rente, wo geht
       	  	 Michael	Müller:	Wo setzt der Berliner Senat zukünftig Akzente    und Unternehmen hineinzuversetzen, deren Wünsche und Ziele   entsprechend.                              die hin?“
            in Adlershof                                      zu verstehen. Der Erfolg ihrer Kunden ist dann auch ihr Erfolg.
                                                                                                                               Service  ist  das  Abstraktum  zum Verb  servieren, „auftragen,  be-
                                                                                                                                                                                     „Tja“, sagte Frau Schönlein nachdenklich, „meistens kauf ich
                                                                                                                               dienen“, das, entlehnt aus dem Französischen, seit dem 16. Jahr-
         14   UNTERNEHMEN                                                                                                                                                            Sachen für meine Enkel. Und mittwochs spiel ick Lotto.“
                                                              Gemäß dieser Maxime handelt auch die Betreibergesellschaft
            Freies	Surfen	–	überall:	Managed Hotspot Services im                                                               hundert im Deutschen nachgewiesen werden kann. Es hat die-
            Technologiepark Adlershof                         des Technologieparks Adlershof mit ihren neuen Business-Sup-     selbe Wurzel wie das Lateinische servus, was Diener oder Sklave   Kurz musste ich meine Stirn auf die kühlende Plastiktischplatte
                                                              port-Angeboten. Ob Fördermittelberatung oder Netzwerk-Event      heißt.  Die  bayrische  Grußformel  kommt  übrigens  auch  da  her.   meines Arbeitsplatzes legen. Dann ging es wieder.
         16   CAMPUS                                          in  unseren  Titelthemabeiträgen  erfahren  Sie,  wie  die  WISTA-   Übersetzt lautet sie so was wie: „Ich bin dein Diener!“   „Frau Schönlein, passen Sie mal auf“, sagte ich. „Sagen Sie mir mal,
            Fachliteratur	in	Bits	und	Bytes: Die Bibliothek der Berliner   MANAGEMENT  GMBH  Start-ups  und  etablierte  Unternehmen                                                 wo Sie wohnen.“ Ich wollte das Probeabo einfach manuell been-
            Humboldt-Universität ist gefragter denn je                                                                         Ein anderes Mal hatte ich eine alte Dame am Telefon, nennen wir
                                                              unterstützt.  Außerdem  stellen  wir  einen  Gebäudestrategen,                                                         den und die Rechnung rausnehmen. Das konnte hier alles nicht
                                                                                                                               sie Frau Schönlein. Sie wollte wissen, an welche Adresse sie die
         18   MEDIEN                                          eine Datenexpertin und zwei Medienprofis vor.                    17,50 Euro für ihr Probeabo schicken soll.            Sinn der Sache sein.
            Das	Mutterschiff:	Konzertfilme und Musikvideos
                                                              Last but not least haben wir Berlins Regierenden Bürgermeister   „Nicht schicken, Frau Schönlein“, sagte ich. „Überweisen müssen   „Meine Adresse?“, rief Frau Schönlein. „Au, das ist fein! Kommen
                                                                                                                                                                                     Sie  mich  besuchen?  Ich  werd  gleich  mal  gucken,  ob  ich  noch
         20   PORTRAIT                                        Michael Müller, der Mitte April den Technologiepark Adlershof    Sie das Geld.“

            Polyglott	in	Adlershof:	viadrina sprachen GmbH jetzt mit       besucht hat, zum weiteren Engagement des Berliner Senats in                                               Kekse im Schrank hab. Momentchen ...“
            Dependance in Adlershof                           der Wissenschaftsstadt befragt.                                  Doch Frau Schönlein hatte andere Pläne.               Die Verbindung wurde unterbrochen. Entweder hatte Frau Schön-
                                                                                                                               „Ich  hab  jetzt  den  20-Euro-Schein  in  den  Briefumschlag  ge-  lein beim Kekse suchen das Telefonkabel aus der Wand gerissen
         21   GRÜNDER
                                                              Ich hoffe, Sie fühlen sich gut bedient mit einer neuen Ausgabe   steckt“, erklärte sie mir munter. „Ist auch schon zugeklebt. Soll ich   oder den Hörer auf der Gabel „abgelegt“. Wir werden es nie er-
            Sicher	im	OP:	Chirurgische Handschuhe von „Smarterials Technology“
            schützen vor Nadelstichen.                        vom Adlershof Journal.                                           Ihren  Namen  raufschreiben?  Das  Restgeld  dürfen  Sie  behalten.   fahren. Auf jeden Fall wünsche ich ihr alles Gute. Und viel Glück
                                                                                                                               Können Sie sich ein Blümchen von kaufen. Fürs Fensterbrett.“   im Lotto.
         22   KURZNACHRICHTEN
                                                                                                                               Ich atmete leise ein und aus. Ich schätzte Frau Schönlein auf Ende   Lea Streisand ist eine Berliner Kolumnistin, Moderatorin und
                                                              Ihre                                                             achtzig. Welcher unseriöse Verkäufer drehte einer so alten Dame   Schriftstellerin. Seit 2014 spricht sie die wöchentliche Kolumne
        Ausführliche Texte und Adlershofer Termine finden Sie unter:   Sylvia Nitschke                                         ein Probeabo an? Bestimmt hatte sie es noch nicht mal gekündigt.  „War schön jewesen“ bei Radio Eins.
            www.adlershof.de/journal                          Leiterin Adlershof Print
                                                                                                                                                                                                             Adlershof Journal  | Mai_Juni 2017  3
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