Page 3 - Adlershof Journal November/Dezember 2018
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ESSAY
Gebt auf – und setzt
euch neue Ziele
Es ist nicht leicht, mit zwei lebensgefährlichen Diagnosen
zu leben. Ich rate jedem, der eine lebensverändernde Krank-
heit hat: Gebt auf! Aber gebt nicht euch, sondern so schnell
wie möglich euer altes Leben auf.
Bevor ich 2009 am Hirnstamm operiert wurde, bestand
mein Leben aus Reisen mit dem Motorrad und Reisen in
die Unterwasserwelt. Zu der Zeit lebten wir in Ägypten,
am Roten Meer. Ich war Tauchlehrer, meine Frau manag-
te die Tauchbasis – ein Leben im Paradies.
Der Hirntumor, der an einer denkbar ungünstigen
Stelle sitzt, konnte nur zur Hälfte entfernt werden.
Zwei Tage später gab es eine Notoperation und
eine wilde Talfahrt. Mein erfülltes Leben war von
jetzt auf gleich beendet. Nach meinem drei-
monatigen Aufenthalt auf der Intensivstation
war für die Ärzte klar, dass ich für immer ein
Pflegefall sein und nie mehr reisen werde.
In der anschließenden Frührehabilitation
verbesserte sich meine halbseitige Läh-
mung nach und nach. Nach drei Monaten
kam ich mehr schlecht als recht mit dem
Rollator voran. Noch in der Reha drängte ich
darauf, Schwimmen und Radfahren erneut
erlernen zu wollen. Ich wollte zwei leichte
Methoden beherrschen, mit denen ich meine
Behinderung mit anderen zu teilen.
vollkommen erschlaffte Muskulatur alleine wieder
Ich stieß immer wieder auf Barrieren in
aufbauen kann.
den Köpfen der Menschen. Nur wenige Betroffene
Ein harter Kampf um jeden Kilometer begann, war ich doch jetzt können sich wie ich von ihrem alten Leben trennen und sich neue
zwar nicht bettlägerig, aber schwerbehindert. Ich sehe seitdem Ziele stecken. „Gesunde“ Menschen sind oft der Meinung, dass
alles doppelt, kann nicht räumlich sehen, habe Probleme mit man mit einem Handicap nicht mehr leistungsfähig ist. Um das
dem Gleichgewicht und bekomme des Öfteren starke Husten- Gegenteil zu beweisen, halte ich Vorträge und schrieb über meine
anfälle, weil mein Schluckreflex nicht richtig funktioniert. Geschichte ein Buch.
Nach über einem Jahr konnte ich wieder längere Strecken zurück- Im Jahr 2012 beschloss ich, mit dem Fahrrad um die Welt zu fahren,
legen. Das Fahrrad war mein Krückstock, mein ständiger Beglei- sollte ich 50 Jahre alt werden. Zum Trainieren unternahm ich viele
ter und ist auch heute noch immer in meiner Nähe. Als ich 2011 kleinere Reisen. Kleiner bedeutet Reisen um die 4.000 Kilometer.
meine erste Reise plante, gab es eine weitere erschütternde So folgte ich der Route 66 in den USA, fuhr vom Ural zum Nordkap
Diagnose: Schwarzer Hautkrebs. Eine weitere Operation war not- und weiter nach Berlin oder radelte über die Alpen nach Rom.
wendig.
Ich begann Projekte zu unterstützen, die sich für ein Miteinander
Spätestens jetzt hätte ich zusammenbrechen müssen, um in das einsetzen, für die Inklusion von behinderten Menschen. So kam es,
gängige Bild zu passen. Doch ich gab mich nicht auf. Ich freue mich dass ich im Rahmen der „Inklusion braucht Aktion“-Fahrradtour
heute über jeden Tag, an dem ich meine Augen öffnen darf und 2015 dem Papst in einer Sonderaudienz die Hand reichen durfte.
erlebe, was die Welt alles für tolle Dinge für uns bereithält. Es gibt Karl Grandt und ich brachten die Inklusionsfackel vom „Netzwerk
auch viel Schreckliches, aber ein Glas ist halb voll oder eben schon Inklusion Deutschland“ zur Segnung zu ihm.
bis zur Hälfte leer.
Letztes Jahr wurde ich 50 Jahre alt und habe diesen September
Um anderen Menschen Hoffnung zu geben, habe ich auf An- meine 17-monatige Weltreise mit dem Rad beendet. Eine 32.000
raten vieler Menschen in meiner Nähe eine Webseite einge- Kilometer lange Tour beweist wohl, dass es einen Grund gibt, zu
richtet und angefangen, mein nun wieder bewegtes Leben mit kämpfen. Also, geht raus und lebt.
Sven Marx lebt in Berlin, hält Vorträge, bloggt über sein Leben und wirbt für die Inklusion.
Adlershof Journal | Nov_Dez 2018 3