Ist mein Kind begabt?
Von der Excel-Tabelle zum Spitzensport – wie Begabungsdiagnostik den Nachwuchs neu denkt
Als sein Sohn vom 1. FC Union Berlin für das Nachwuchsleistungszentrum entdeckt wurde, stand Daniel Heidrich vor einer Frage, auf die es erstaunlich wenig belastbare Antworten gab: Ist mein Kind wirklich sportlich begabt? Für den Ingenieur war klar: Wenn sich etwas messen lässt, dann sollte es auch gemessen werden. Die Sportwissenschaft bot nichts an, was seinen Ansprüchen genügte. Also entwickelte er kurzerhand selbst ein Begabungsmodell, erstellte zahllose Berechnungen – und legte damit den Grundstein für ein einzigartiges Projekt, das heute Sportdeutschland mitgestaltet.
Was als persönlicher Vater-Sohn-Moment begann, ist heute Teil eines Ökosystems, in dem Daten, Technologie und sportliches Potenzial aufeinandertreffen.
Der Ursprung des Ökosystems liegt in der ebk Krüger & Co. KG Automotive, einem Unternehmen, das Teile für auslaufende Serien der Autoindustrie produziert und dessen Co-Geschäftsführer Heidrich ist. Als die Datenerfassungen, Prozesse und Bestellungen irgendwann zu komplex für Excel wurden, begannen zwei Werkstudenten auf der Basis einer Business-Intelligence-Software intelligente Lösungen zu entwickeln. Daraus entstand ein neues IT-Unternehmen: Die LeitArt – heute ein Vorreiter auf dem Gebiet der datenbasierten Unternehmenssteuerung.
Heidrich tüftelte derweil weiter an seinen sportlichen Fragen. Er nahm sich vier etablierte Testkategorien – Anthropometrie (Bestimmung von Maßverhältnissen des menschlichen Körpers), Schnelligkeit, Koordination und Kognition – und baute sie zu einem validierten Modell zusammen. Schnell wurde daraus mehr als ein Papa-Projekt: Unternehmen Nummer drei, die 4talents analytics war geboren. Gemeinsam mit ersten Kollegen wurde begonnen, zunächst wenige, dann hunderte, schließlich tausende Kinder zu testen – vornehmlich in der Alterskategorie von neun bis 13 Jahren. Zunächst in Berlin, später bundesweit. Heute sind es 13.000 Datensätze, die nicht nur im Fußball, sondern auch im Basketball, Handball und bald im Schwimmen helfen, Begabungen zu erkennen – lange bevor die Kinder ins Wettkampfalter kommen.
Die Halle, in der das passiert, ist ein Hybrid aus Sportstätte, Trainingszentrum und Ideenfabrik. Am Morgen trainieren hier ebk-Mitarbeitende, angeleitet von einem Athletikcoach, um Haltungsschäden und Bewegungsmangel entgegenzuwirken. Ein Angebot, das auch alle anderen im Technologiepark ab diesem Sommer nutzen können. Danach kommen die jungen Talente – manchmal gleich ganze Nachwuchsteams, unter anderem vom Fußball-Bundesligisten Union Berlin. Am Abend wird der Raum gelegentlich zur Eventlocation, in der Technologie und Bewegung in lockerer Atmosphäre zusammenkommen – SoccerBot, Skillcourt, Sprungmessplatten: für die meisten Teilnehmenden völliges Neuland.
Einer der Köpfe hinter dieser Vision ist auch Karsten Görsdorf – Geschäftsführer der 4talents analytics GmbH, Sportwissenschaftler, Germanist und seit Juni Chef-Bundestrainer im Schwimmen. Eine ungewöhnliche Mischung, die sich aber wie selbstverständlich zusammenfügt. Seine berufliche Laufbahn liest sich wie ein Ritt durch die Praxis der modernen Leistungsdiagnostik: von der Spielanalyse im Beachvolleyball über Handball- und Fußballbeobachtung bis hin zur Nachwuchsförderung im Basketball. Eines seiner nächsten Ziele: Deutschland im Schwimmen wieder an die Weltspitze führen – mit Strategien, die schon heute im Kindesalter ansetzen.
Doch das Projekt bleibt bei allem wissenschaftlichen Anspruch geerdet. Da gibt es schon mal einen Elternabend, bei dem offen über die zwei Seiten des Spitzensports gesprochen wird: Beate Wagner und Axel Schulz, die Eltern der NBA-Stars Franz und Moritz Wagner, erzählen, wie sich der Traum vom großen Wurf auch anfühlen kann – mit Entbehrungen, Einsamkeit, Zweifeln. Es ist dieser ehrliche Blick auf die Realität, der dem Projekt seine Tiefe verleiht. Denn nicht jedes Kind muss Profi werden.
So ist aus der Frage eines Vaters ein Ort entstanden, an dem es um mehr geht als um Sekunden und Zentimeter. Ein Nukleus für Sporttalente, der europaweit seinesgleichen sucht. Nicht staatlich initiiert, sondern privat gestemmt. Von Menschen mit Neugier, Mut und einem unbeirrbaren Glauben an das, was aus einem guten Impuls entstehen kann.
Rico Bigelmann für Adlershof Journal