Wie Beeinträchtigungen zu Bereicherungen werden
Wie ein Forschungsprojekt mehr Mitarbeitende mit Behinderungen für den Technologiepark gewinnen will
Fachkräfte sind entscheidend, um Unternehmen voranzubringen. Das Potenzial, das Menschen mit Beeinträchtigungen bieten, wurde lange übersehen. Doch das ändert sich langsam.
Die gehörlose Kollegin, der Kollege mit Autismus – in einigen Firmen sind sie längst Teil der Teams und ein Gewinn für alle Beteiligten: Die betroffenen Menschen können sich im Arbeitsleben verwirklichen, die Unternehmen bewältigen ihre Aufgaben mit fähigen Mitarbeitenden und die Teams werden diverser und lebendiger.
Doch vielfach ist der Anteil von Menschen mit Beeinträchtigungen noch gering, wird das Potenzial für beide Seiten nicht ausgeschöpft. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, von Sorgen um das Leistungsniveau bis zu individuellen Berührungsängsten. Was ist zu tun, um mehr Mitarbeitende mit Einschränkungen zu gewinnen? Dieser Frage geht das Forschungsprojekt „Inklusive Berufswelten implementieren und stärken (IBis)“ der Technischen Universität Dortmund und der WISTA Management GmbH nach, unter anderem mit Befragungen Adlershofer Technologieunternehmen. „Der Bewerbungsprozess ist eine wesentliche Stellschraube“, berichtet Bessie Fischer-Bohn, Personalleiterin der WISTA, von ersten Ergebnissen.
Da sind einerseits die Formulierungen der Stellenausschreibungen. „Wenn dort von ‚vielen Aufgaben und Verantwortung‘ die Rede ist, fühlen sich manche womöglich überfordert“, sagt sie. Besser sei es, das Profil realistisch darzustellen. Auch der Satz: „Behinderte seien ebenfalls zur Bewerbung ermuntert“, sei letztlich nicht mehr als eine Floskel. „Wer Fachkräfte will, muss klar machen, was er bietet“, so die Personalleiterin. Beispielsweise so: „Sollten Sie besondere Bedürfnisse an die Gestaltung ihres Arbeitsplatzes haben, sind wir gern bereit, diese zu ermöglichen.“
Andererseits lässt sich eine Position auch auf individuelle Aspekte zuschneiden, „Jobcarving“ genannt. „Das kann etwa bedeuten, einfache und routinemäßige Tätigkeiten in einer neuen Stelle zu bündeln, die besonders für Menschen mit Lernschwierigkeiten geeignet ist.“
Diese und weitere Anregungen hat das Studienteam in einem „Leitfaden zur Erstellung einer inklusiven Stellenausschreibung“ zusammengefasst, der im Anhang heruntergeladen werden kann.
Neben geeigneten Strukturen brauche es aber noch mehr, hebt Fischer-Bohn hervor. „Entscheidend ist, wie ein Unternehmen, wie das Team mit Behinderungen umgeht.“ Ob sich die Betroffenen stigmatisiert fühlen, unsicher sind oder ob sie als wertvoller Teil anerkannt und geschätzt werden. „Es bringt wenig, Teilhabe auf die Webseite zu schreiben, sie muss gelebt werden.“
Wie es gut funktionieren kann, zeigt etwa das Pharmaunternehmen Berlin-Chemie. Bereits seit 1978 gibt es dort die Geschützte Betriebsabteilung für Menschen mit Beeinträchtigung. Die Mitarbeitenden sind zur Stelle, wenn es Probleme bei der Verpackung gibt, beispielsweise Faltschachteln durch Maschinen beschädigt werden. „Die Medikamente sind dann bereits verblistert, sie werden durch uns abgewogen und neu verpackt, wo nötig, auch die Gebrauchsinformation hinzugesteckt“, sagt der Leiter der Abteilung Sebastian Jastram.
27 Kolleginnen und Kollegen mit Beeinträchtigungen sind aktuell tätig, weitere Einstellungen laufen bereits. Sie werden von vier studierten Sozialarbeiter:innen begleitet, hinzu kommt ein dreiköpfiges Leitungsteam. „Wir sind keine Werkstatt, sondern erster Arbeitsmarkt“, betont Jastram. „Unsere Mitarbeitenden erhalten Tariflohn, einschließlich Urlaubs- und Weihnachtsgeld.“
Wenn sehr viel Arbeit anfällt, packen alle mit an und die Einsatzpläne werden angepasst, um Dringliches zuerst anzugehen. „Stress und Hektik müssen wir vermeiden“, sagt er. Ein Job in der Produktion mit den lauten Maschinen und straffen Takten würde sein Team überfordern. Daher arbeitet es in separaten Räumen, mit mehr Pausen, höchstens sechs Stunden pro Tag.
Für das Unternehmen rechne sich der Mehraufwand dennoch, erklärt Jastram: „Da sind einerseits die Medikamente, die wir für die Auslieferung fertigstellen. Zudem übernehmen wir weitere Aufgaben wie das Scannen von Dokumenten, so dass Mitarbeitende in anderen Abteilungen entlastet werden.“
Die Geschützte Betriebsabteilung ist fester Bestandteil der Berlin-Chemie AG. Auszubildende in Mechatronik oder Labortätigkeiten durchlaufen die Station routinemäßig und lernen das Team kennen. „Angstschwellen oder Barrieren im Kopf, die gibt es hier nicht.“ Bei Betriebsfesten oder beim Essen in der Kantine – die Mitarbeitenden gehören dazu wie alle anderen auch.
Umso mehr wundert sich Jastram, warum solche Abteilungen noch immer selten sind. Firmen, die eine solche erwägen, ermuntert er ausdrücklich. Darüber nachzudenken sei der wichtigste Schritt. „In jedem Unternehmen gibt es Aufgaben, die Menschen mit Beeinträchtigungen übernehmen können.“ Am Ende lohne es sich für alle.
Ralf Nestler für Adlershof Journal