Zahlen im Kopf – Physik im Herzen
Gedächtnissportler Konstantin Skudler über einen ungewöhnlichen Lebensweg zwischen Gedächtnispalästen und Formellogik
Wie lassen sich Hunderte Zahlen in wenigen Minuten merken – und warum helfen dabei Emotionen mehr als eiserne Disziplin? Physiker und Gedächtnissportler Konstantin Skudler über einen ungewöhnlichen Lebensweg zwischen Gedächtnispalästen und Formellogik.
Konstantin Skudler sitzt vor einer Wand voller Pokale. Wer ihn nicht kennt, könnte meinen, er sei ein Vielseitigkeitssportler – ein bisschen Karate, ein bisschen Tanz. Doch die Mehrheit der Trophäen stammt aus einer Disziplin, die es nicht im Schulsport oder Fitnessstudio gibt: Gedächtnissport. Skudler, Jahrgang 1999, ist seit seinem fünften Lebensjahr aktiv in einer Szene unterwegs, die zwischen Schulbank und Spitzenleistung oszilliert – einer Welt, in der Zahlen zu Bildern und Emotionen zu Lernverstärkern werden.
Seine Geschichte beginnt früh. Mit vier Jahren wird bei ihm Hochbegabung festgestellt. Skudler lernt mit der zwei Jahre älteren Schwester Schulstoff und langweilt sich dabei kein bisschen. Die Familie fördert das Talent vielseitig: Musikschule, Kinderchor, Karate. Doch ein Baustein fehlt – etwas rein Mentales. Ein Kurs der Hochbegabtenförderung bietet Gedächtnistraining an, verbunden mit einer Einladung zur Norddeutschen Gedächtnismeisterschaft. Vater und Sohn fahren hin, und für den kleinen Konstantin öffnet sich eine neue Welt: „Zahlen lassen sich also nicht nur merken, sie können auch verwandelt werden. In Bilder. In Geschichten.“
Das Gedächtnistraining beginnt spielerisch. Skudler lernt die sogenannte Loci-Methode, verwandelt Zahlen in Figuren, platziert sie an imaginären Wegpunkten. Auch wenn seine frühen Ergebnisse „überschaubar“ sind, wie er sagt, kommt bald der Ehrgeiz. Mit neun Jahren wird er erstmals Deutscher Gedächtnismeister in der Altersklasse der bis zu Zwölfjährigen. Was folgt, ist ein rascher Aufstieg. WM-Teilnahme, Fernsehauftritte, SternTV, Interviews – der Junge mit dem Ausnahmegedächtnis wird medial sichtbar. Anders als viele seiner Altersgenossen bleibt er der Szene treu. Heute ist er Präsident des Vereins MemoryXL, organisiert Meisterschaften und begleitet den Sport mehr aus organisatorischer als aus aktiver Perspektive.
Was Skudler fasziniert, ist nicht die Mechanik allein, sondern das Prinzip dahinter. Die Verbindung von Emotion, Bild und Raum. „Je mehr Synapsen gleichzeitig angesteuert werden, desto stärker bleibt eine Erinnerung haften“, erklärt er. Die Gedächtnistechniken greifen dort, wo unser Hirn evolutionär am stärksten ist: in der Orientierung, in der Visualisierung, im emotionalen Erleben. Deshalb hilft keine langweilige Wiederholung, sondern nur das Merkwürdige – im besten Sinne. „Merkwürdig“ sei das, was es wert ist, sich zu merken. Geschichten, die eklig, absurd oder wunderschön sind. Am besten alles auf einmal. Und doch: Skudler lebt längst in zwei Welten. In der des Gedächtnissports, seiner Kindheit, seines Talents – und der der Physik, seines Studiums, seiner Promotion an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB). Eine Verbindung? Kaum. „Verständnis ist das Gegenteil von Auswendiglernen“, sagt er. In der Physik gehe es nicht darum, sich Formeln zu merken, sondern Zusammenhänge zu begreifen. Wer verstanden hat, kann alles herleiten – und muss sich nichts merken. Das klingt nüchtern, aber nicht enttäuscht. Der Gedächtnissport ist für ihn keine Methode, um akademisch zu glänzen, sondern eine Form der Persönlichkeitsbildung. Ein Weg, der früh begann und ihn geprägt hat – nicht unbedingt als Werkzeug, sondern als Haltung. Als Vorstellung davon, wie Lernen auch sein kann: verspielt, kreativ, emotional. Und wer einmal erlebt hat, wie sich ein Neunjähriger zur Gedächtnis-Weltmeisterschaft trainiert, weiß, dass Skudlers Weg alles andere als gewöhnlich ist.
Rico Bigelmann für Adlershof Journal
Physikalisch-Technische Bundesanstalt
MemoryXL e.V. – Verein für Gedächtnisstraining und Gedächtnissport