Raum für die soziale Frage
Wohnen beinhaltet vieles: Grundbedürfnis, Zuhause, Investitionsgut, Vermögenswert – und ist ein Verstärker von Generationen(un)gerechtigkeit, sagt Kultur- und Sozialgeografin Ilse Helbrecht

Zurzeit ist im öffentlichen Diskurs viel von den Folgen des kürzlich im Bundestag beschlossenen Schuldenpaketes die Rede. „Die Themen Unterbringung von Geflüchteten, Obdachlosigkeit, zu wenig sozialer Wohnungsbau spielen dabei eine eher untergeordnete Rolle“, sagt Ilse Helbrecht, Professorin für Kultur- und Sozialgeografie an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Dabei ist das Thema Wohnen eigentlich die soziale Frage des 21. Jahrhunderts.“
Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit kulturellen und sozialen Themen der Stadtgeografie. Die Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt und die in Großstädten damit verbundene Gentrifizierung zählen zu ihren Spezialgebieten. Seit Herbst 2024 widmet sich Helbrecht einem neuen Forschungsprojekt, das von der Volkswagenstiftung finanziert wird und sich mit einem Thema von hoher gesellschaftlicher Relevanz befasst: der Generationen(un)gerechtigkeit auf europäischen Wohnungsmärkten.
Sie wird in dem internationalen Verbundprojekt untersuchen, wie sich die angespannten Wohnungsmärkte in Europa auf die Frage der Generationengerechtigkeit auswirken. Ihre Einschätzung: Wohnen ist zwischen den verschiedenen Generationen ungerecht verteilt. Die älteren Jahrgänge in Europa verfügen zumeist über ausreichenden persönlichen Wohnraum, während der Zugang zum Wohnungsmarkt für Jüngere sehr schwer geworden ist.
Die Studie konzentriert sich auf größere Städte in vier Ländern: Irland (Dublin), Spanien (Granada), die Niederlande (Amsterdam) und Deutschland (Berlin). Die Auswahl erklärt sich durch die Wohnungsmärkte, die unterschiedlich organisiert sind. Ilse Helbrecht verdeutlicht die Unterschiede im Ländervergleich: Deutschland hat eine der niedrigsten Wohneigenheimquoten in Europa. Im Durchschnitt leben 47 Prozent aller Deutschen in einer eigenen Immobilie, das heißt, eine knappe Mehrheit kann dies nicht. In Berlin liegt die Mietquote sogar weit über 80 Prozent. In Großbritannien hingegen war es lange Zeit üblich, sich bereits im Alter von 22 eine kleine Immobilie zu kaufen, zumeist fremdfinanziert und durch staatliche Förderung unterstützt, sodass die junge Generation früh am Wohnungsmarkt teilhaben konnte. Nach der Finanzkrise 2008 änderte sich das, die Banken wurden bei der Vergabe von Krediten restriktiver, die Wohnungspreise stiegen. Heute werden die Jungen als „generation rent“ bezeichnet.
Dagegen ist im Mittelmeerraum, etwa in Spanien, die Eigentumsquote traditionell sehr hoch. Durch die aktuell schlechte wirtschaftliche Lage hat die junge Generation Probleme, gute Jobs zu finden mit der Folge, dass sie im Durchschnitt noch mit 30 Jahren zu Hause bei den Eltern wohnt. Das belastet die Familien und gelingt selten konfliktfrei – auch wenn im mediterranen Raum die Familienkultur oftmals noch eine andere Rolle spielt als etwa in Nordeuropa.
Helbrecht betont, dass es in ihrem Forschungsprojekt nicht nur um Märkte und Vermögensverteilung geht, sondern insbesondere auch um die Beziehungen zwischen den Generationen: einerseits innerhalb der Familien, andererseits zwischen den verschiedenen Jahrgängen. In der Sozialwissenschaft wird zwischen intragenerationalen und intergenerationalen Aspekten unterschieden. „Wir fragen einerseits, wie Wohnungsmärkte den Zugang von Generationen zum Wohnen heute prägen, oder auch umgekehrt, wie das Wohnen heutige Familienverhältnisse prägt“, erklärt Helbrecht. „Auf jeden Fall geraten Familien unter Druck, wenn auf kleinem Raum zu viele Mitglieder wohnen müssen oder wenn ein Elternhaus an mehrere Kinder vererbt wird.“ Welche Rolle dabei der Staat spielt, der die Wohnungsmärkte entscheidend steuert und reguliert, und welche Rolle die Familien, steht im Mittelpunkt der qualitativen und quantitativen Studien, die Helbrecht mit ihren Forschungskolleginnen und -kollegen durchführen wird. Mit ersten Ergebnissen ist in drei Jahren zu rechnen.
Heike Gläser für Adlershof Journal
Prof. Dr. Ilse Helbrecht — Geographisches Institut der Humboldt-Universität zu Berlin